Samstag, 29. November 2025

Die schwere Stunde

Sie brachten uns in einen abgedunkelten, fensterlosen und schwülwarmen Raum, in dem bereits mehrere Frauen und vereinzelt auch Männer saßen. Wir hörten Schreie aus einem der Nebenzimmer - scharfe Schreie, unterbrochen von lauten und stoßweisen Atemzügen, denen man den in ihnen liegenden Schmerz und die Arbeit anhörte - dann wieder ein Schrei und durch die Wände gedämpfte Rufe, treibend und fordernd. Die Frauen in unserem Raum wirkten gelassen bis interessiert, den anwesenden Männern sah man ihre Anspannung und das Gefühl, hier nicht ganz richtig zu sein, an, wie Statisten am falschen Filmset. Wieder das stoßweise Atmen auf dem Flur, danach ein weiterer gepresster Schrei. Ich kann nicht sagen, wie lang das ging - Schreie, Atmen, Pressen, Rufe - , über Minuten, vielleicht Stunden, bis man irgendwann jedes Gefühl für Zeit verlor.

Dann herrschte plötzlich nach einem erneuten lauten und finalen Schrei vollständige Ruhe. Der jungen Frau auf der anderen Seite unseres Raumes mit dem schlichten Kopftuch und dem wahrscheinlich viel zu warmen Umhang über ihren aufgetriebenen Bauch, ging ein Lächeln über den Mund. Die ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, sprach sie leise auf türkisch oder arabisch an. Ich wechselte einen Blick mit meiner Frau, die ebenfalls lächelte und dabei ihren Bauch rieb. Sie wusste, sie wird in ein paar Tagen, vielleicht schon morgen, selbst in einem der Zimmer liegen und schreien - und sie freute sich darauf. Nachdem die Schreie verklungen waren, war noch kurz das kräftige Krähen eines Säuglings zu hören, danach wieder gedämpfte Stimmen und offensichtliche Betriebsamkeit. Eine Frau in Schwesternkleidung rannte an unserer Tür vorbei in einen anderen Raum, dann wieder Stille.

Es dauerte noch einige Zeit, bis erst die junge Frau mit ihrer Mutter und dann auch wir abgeholt wurden. Sandra wurde auf eine Liege gelegt und eine Schwester schmierte ihren riesigen Bauch mit einem kalten Gel ein, so dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Sie legten Gurte mit den Sensoren für den Wehenschreiber an. Augenblicke später erfüllte das schlurfende Geräusch des Apparats den Raum, durchzogen von dem regelmäßigen Herzton der Ungeborenen, während das Gerät seine zackigen Kurven auf Papier schrieb. Danach kam eine Ärztin und drückte den breiten Sensor des Ultraschallgerätes an ihren Bauch. Auf dem Bildschirm war der Fötus in seiner dunklen Fruchtblase zu sehen. Alles war in Ordnung, das Kind lag ruhig und kopfüber in seiner Höhle und machte regelmäßige Atembewegungen. Die Herztöne waren perfekt; noch gab es keine Panik, noch drängte es nicht, den warmen Schutz im Inneren meiner Frau zu verlassen. Sandras Blick war verträumt zum Bildschirm gerichtet, ich hielt ihre Hand– was hätte ich auch sonst tun können. Nach einigen weiteren Untersuchungen teilte uns die Ärztin mit, dass es bereits schwache Wehen gäbe und der Muttermund bereits weicher wurde: “Wahrscheinlich wird ihr Kind morgen zur Welt kommen,” sagte sie sachlich und zugleich zärtlich.

Ich fuhr nach Hause, denn da gab es ja doch noch einiges zu tun - immerhin gab es ja einige Geschwister, die wir zwar eine Zeitlang allein lassen konnten, die letztlich aber auch noch was zu essen brauchten - und vor allem wissen wollten, wie es ihrer Mutter ging. Sandra war in guter Obhut  in der Klinik und man würde mir schon Bescheid geben, wenn es losgeht. Für den Fall waren auch unsere Freunde informiert, die dann zumindest die beiden jüngeren Kinder zu sich nehmen wollten; die verteilten wir entsprechend direkt. Am Abend ging ich dann normal schlafen, das Handy direkt neben mir auf dem Nachtschrank - und um 2:00 Uhr am nächsten Morgen ging es dann auch los: “Komm sofort ins Krankenhaus, schnell,” brüllte Sandra mich durchs Telefon an. “Sie kommt …,” und dann wurde sie von einer Wehe unterbrochen. Ich versicherte ihr, dass ich mich losmachen und beeilen werde, in einer halben Stunde sollte ich da sein - die Straßen waren ja frei. Ich weckte den Großen und sagte ihm, dass ich ins Krankenhaus fahre und er sich um die anderen kümmern sollte. Dann stürmte ich auch schon los. Nun war es nicht die erste Geburt, die wir gemeinsam durchmachten, aber es war auch nicht Routine genug, als dass ich nicht nervös und aufgeregt war. Als ich in den Kreißsaal kam, wurde ich auch direkt erwartet und zu meiner Frau geführt, die bereits auf die Niederkunft vorbereitet war. “Die Wehen kommen regelmäßig," teilte mir die Hebamme mit, “aber es wird auch noch etwas dauern.” Weil die Wehen noch zu schwach waren, hatten sie meine Frau an einen Tropf angeschlossen, der die natürlichen Wehen durch zusätzliche Gabe von Oxytocin unterstützen sollte; auch das kannte ich von der letzten Geburt, bei der die natürlichen Wehen über die Zeit nachgelassen hatten. Das Oxytocin sorgte allerdings tatsächlich für sehr starke Wehen und so bog sich Sandra alle paar Minuten unter Schmerzen, bis sie schließlich so schnell hintereinander kamen, dass die eigentliche Geburt eingeleitet wurde. 

“Was im Kreißsaal und unter der Geburt passiert und gesagt wird, bleibt im Kreißsaal,” sagte mir die Hebamme und so möchte ich es auch halten. So viel nur: Das Kind kam unter enormen Kraftanstrengungen und Schmerzen auf die Welt und mein Job war vor allem, meiner Frau mit enormem Kraftaufwand die Beine zu spreizen und sie so zu unterstützen. Sobald wir den kleinen Kopf zwischen den gespreizten Beinen erkennen konnten, und dieser kurz darauf auch heraustrat, nahm die enorme Anspannung fast schlagartig ab und der Rest des kleinen Körpers kam direkt hinterher. Um 3:47 Uhr war sie da, 4,6 Kilo schwer - ein echter Klopper. “Die Nase, die Nase, sie sollen sich die Nase ansehen,” rief meine Frau geschwächt und in Erinnerung an Komplikationen bei der Geburt unseres Sohnes; Schon hatten die Hebammen das Kind genommen und untersuchten es bereits. Der erste Schrei und damit die Gewissheit, dass das Kind Luft bekam und Atmen konnte, kam kurz darauf. Was blieb, waren Blut, Schweiß, Kot und Urin - und doch zeugte all dies von einem der schönsten und intimsten Erlebnisse, die wir gemeinsam hatten. Sobald meine Frau das noch käsige und blutige Bündel auf ihrem Bauch spürte und ich mit der Schere die letzte Verbindung zwischen ihr und ihrer Tochter getrennt hatte, waren alle Schmerzen, all die Kraftanstrengungen und alle Leiden der letzten Stunden vergessen - und wir beide waren glücklich. Geschafft; Ich nahm beide in den Arm und wir genossen diesen ersten wunderschönen Moment mit unserer gemeinsamen Tochter, die wir mit dem bereits vorher gewählten Namen Freya Nour ansprachen.

Freya Nour, geboren am 29. November 2016

Die Geburt war natürlich nur der Start für das neue Leben, wenn auch sicher der prägendste und intimste Moment.  Freya ist die Jüngste von sechs und heute ist sie neun Jahre alt. Wie alle unsere Kinder lieben wir sie abgöttisch und genießen jeden Tag, den wir mit unseren Kindern haben - auch wenn sie ebenso wie alle anderen gelegentlich an unseren Nerven zerrt. Und damit soll diese Erzählung von ihrer Geburt auch ein Ende haben, über alles andere können andere Geschichten berichten.

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Dieser Text entstand kurz vor dem neunten Geburtstag meiner Tochter. Ich wollte darin die Erinnerung an ihre Geburt einfangen - so, wie ich sie als Vater erlebt habe. Der Titel ist inspiriert durch den Namen eines Gemäldes von Charlotte Berend-Corinth, die wohl eine der ersten war, die die Intensität einer Geburt in ihrer unverblümten Härte dargestellt und öffentlich präsentiert hat. Das Bild gilt als verschollen, es gibt nur noch eine alte Fotografie und eine Ölskizze davon.

Charlotte Berend-Corinth: Die schwere Stunde, Ölskizze von 1908


Samstag, 22. November 2025

Wann ist eigentlich mein Internet gestorben?

Das Internet ist tot, oder?

In ihrer Late-Night-Show thematisierte Sandra Bosetti letztens das Thema Künstliche Intelligenz und macht in dem sehenswerten Beitrag einen Schwenk ins Internet. Der Titel: Wer hat das Internet geklaut? Ihre These: Das Internet, wie es eigentlich mal gedacht war, ist tot - stattdessen besteht das Netz heute aus lauter Echokammern, die sich als soziale Netzwerke tarnen und letztlich a-sozial sind.

Sandra Bosetti fragt: "Wer hat das Internet geklaut?"

Sie ist mit dieser These nicht allein und immer wieder poppen Artikel, Videos, Reportagen zum Thema auf. Zuletzt stellte etwa Der dunkle Parabelritter die Frage: Was sind eigentlich eure Hobbies und proklamiert die "Generation Hobbylos". Ohne eine wirkliche Datenerhebung zu machen, reicht es wahtscheinlich, mal mein eigenes Verhalten im Internet zu reflektieren. Und ohne zu spoilern: das Ergebnis ist ernüchternd.

Vorweg: Ich habe Hobbies - einige sogar: ich spiele analoge Brett- und Kartenspiele, ich lese Bücher, ich schreibe Texte (mittlerweile auch Geschichten), ich habe Freunde und treffe sie auch, ich habe Familie, und ein entsprechendes Familienleben ich höre Musik und ich liebe es, für Wikipedia zu recherchieren und zu schreiben ... insofern fühle ich mich natürlich vom Parabelrittr nur peripher angesprochen. Aber ja, auch ich konsumiere Streamingdienste und das Internet und - die beiden bisherigen Links beweisen es - bewege mich durch youtube und schaue mir dort regelmässig passiv Videos an.

Zurück also zu der eingangs von Bosetti gestellten Frage: Wer hat das Internet geklaut? 

Ich springe mal zurück in die Zeit, als ich meine ersten Schritte im Netz gemacht habe. Wir schreiben das Jahr 1995, als ich meinen ersten Internetaccount über die Uni aktiviert habe. A whole new world! - es gab noch kein facebook, kein youtube und auch keine Wikipedia - es gab Websites, über die man surfen konnte und Linklisten, derer man sich dafür bediente. Ich fand Inhalte zu allen möglichen und unmöglichen Themen - in der Regel auf einfach gestalteten Websites. Ich war damals auch auf vielen privaten Seiten unterwegs, auf denen Dinge passierten. Ich erinnere mich dabei auch gut an meine ersten Schritte als Autor kreativer Texte - vor allem auf den Websites einer Autorin, die sich Die Zauberfee nannte, und im Drachental des Moordrachen; beide gibt es sogar noch - das Zauberbuch der Zauberfee mit ihrem Netzroman Die Perlen von Caala-Elen ebenso wie Die magische Welt von Íja Macár - wühlt man dort ein wenig herum, findet man sogar meine Spuren. Die erste Begegnung etwa, oder die Drachenmagie sind Splitter, die ich in Caala-Elen hinterlassen habe, und es gab sogar Besuch aus der Hölle:

Er brach Onnaro das Genick und schleuderte ihn in eine Ecke, die sich, wie auch das gesamte Gebäude, augenblicklich auflöste. 

Im Drachental versuchte ich mich an dem Schwarzkraken und der Muttermuschel Muna-El sowie dem magischen Gen. Parallel fand man mich im spinchat, wo ich mir mit meinem Charakter Necrophorus ein Eckchen im Dark Chat eingerichtet hatte. Ich war auch dort kreativ unterwegs und der Raum war nichts anderes als ein Rollenspiel mit Grufticharakteren. Ich fand weitere Projekte wie die Plattform clickfish.com, 2002 gestorben, auf der ich als Guide für biologische Themen und Heavy Metal unterwegs war, und expertenseite.de, eine perfekte Seite für Klugscheißer. 2003 startete dann auch meine "Karriere" in der deutschsprachigen Wikipedia - damals noch ein nischiges Nerdprodukt, auf dem man sich austoben konnte. Nun, dort hänge ich noch heute fest - mit Leib und Seele.

Der schreibende Götz von Berlichingen, seit Jahren mein Bnutzerbild in der Wikipedia


Und sonst: Tatsächlich springe ich viel rum im Netz - aber heute fast ausschließlich getrieben über die Google-Suche, wenn ich nach bestimmten Themen Ausschau halte. Linklisten und private Websites kommen in meinem Internetverhalten heute so gut wie gar nicht mehr vor. Ich nutze facebook zur privaten Vernetzung, whatsApp zur Kommunikation, wühle mich durch youtube und Instagram ... die wenigen alternativen Seiten, die ich noch regelmässig ansteuere, sind das kingwiki, cover.info (bei beiden bin ich auch aktiv als Autor bzw. Redakteur) oder boardgamegeek - abseits davon wird es dünn.

Ist mein Internet gestorben? - ich würde es nicht bejahen, aber wohl auch nicht verneinen. Ich glaube aber, dass es Zeit wird, mal wieder durchs Internet zu surfen und auch verborgenere Ecken auszuloten. Wer ist dabei?

Back to Mixtape - In Hell, I'll Be in Good Company (The Dead South)

Und noch ein Beitrag aus meinem Zweitblog zum Thema: Back to Mitape hinterher. So wahnsinnig viele werden nicht mehr kommen, aber ich habe vor, diese Serie hier fortzuführen und vor allem durch Coverversionen zu ergänzen, die mir interessant erscheinen - es bleibt als subjektiv ....

In Hell, I'll Be in Good Company - ein Song, der so heisst, muss und will gehört werden; und das lohnt sich. Nach einem eingängigen Intro aus Pfeifen und Bassbegleitung folgt ein Hybrid aus Bluegrass- und Folk(rock), der vor allem bei youtube seine Fans fand. Das offizielle Video wurde dort bi heute fast 260 Millionen mal abgerufen und entwickelte auch ein Eigenleben: zahlreiche Fans drehten ihre eigene Version des Videos und luden sie hoch.


Das Lied erschien 2014 auf dem Debutalbum der kanadischen Band The Dead South, Good Company, bei dem Label Devil Duck Records. Die Band startete als Liveband und spielte nach eigenen Aussagen als "rockin' stompin' bluegrass band", wobei sie häufig satirische Texte zu rock-angehauchter Folkmusik produzierte. Good Company enthält dabei einige Perlen und ist als Gesamtalbum nicht zu verachten - was auch auf die beiden Folge-Alben Illusion & Doubt und Sugar & Joy zutrifft. Sie selbst bezeichnen sich ironisch als die bösen Zwillinge von Mumford & Son.

Einer der größten Fans des Titels ist übrigens William Shattner, der als Darsteller von Captain Kirk im Raumschiff Enterprise bekannt wurde. Shattner ist auch Musiker und veröffentlichte 2020 sein Album The Blues, auf dem er zahlreiche Blues(rock)-Klassiker neu interpretiert. Hier reiht er In Hell, I'll Be in Good Company als jüngsten Titel neben Klassikern wie Sweet Home AlabamaRoute 66 oder Mannish Boy ein und setzt ihm ein frühes musikalisches Denkmal.


Eine weitere spannende Coverversion stammt von Leo Moracchioli, der sich mit Metal-Coverversionen auf youtube einen Namen gemacht hat. Auf seinem youtube-Kanal finden sich regelmässig spannende neue alte Titel, die er kreativ umsetzt.



Mehr Infos:

Back to Mixtape - Hate is a 4-letter Word (Shock Therapy)

Wie angekündigt hole ich ein paar ältere Beiträge aus meinem Zweitblog zum Thema: Back to Mitape hierher - hier wäre der nächste, auch dieser nur leicht bearbeitet:

1985 erschien in den USA ein Mini-Album der bis dahin unbekannten Band Shock Therapy das nach dem Bandnamen entsprechend auch Shock Therapy hiess. Die Band wurde 1982 von Gregory John McCormick and Eric Keith Jackson gegründet und bewegte sich im Bereich des Post-Punk-Minimalismus und und der Elektronischer Popmusik - dem Bereich, der später als Elektropunk Vorläufer der EBM-Musik werden sollte. Unter den sieben Titeln des Debüts befand sich mit Hate is a 4-letter Word ein Song, der mit seiner Länge von mehr als sechs Minuten zu einem der bekanntesten Clubhits der Schwarzen Szene avancieren sollte.

Zunächst blieb Shock Therapy allerdings ein Insider vor allem in der Indie-Szene. Vor allem die College-Radios spielten den Song in Heavy Rotation und brachten ihn so an die Zielgruppe, in der Folge konnte die Band vor einem stetig wachsenden Publikum spielen. 

Nach der Veröffentlichung des zweiten Albums My Unshakable Blues kamen sie auch nach Deutschland und 1991 übernahm das deutsche Label Dossier die Band und veröffentlichte das nunmehr fünfte Album The Great Confuser sowie im gleichen Jahr auch Hate is a 4-letter Word als Neuauflage des Debüts, angereichert mit ein paar weiteren Songs der Bands. Der Titelsong wurde nun auch in Deutschland bekannt und verbreitete sich als Clubhit vor allem in der Schwarzen Szene, wo Gothics und EBM-Fans gleichermassen auf den prägnanten Stampfsound mit Piano-Begleitung abtanzten und dabei die sich immer wiederholende Titelzeile intonierten.


Shock Therapy hatten es in die imaginäre Hall of Fame geschafft und veröffentlichten bei Dossier weitere Alben in ständig wechselnder Besetzung, Hate is a 4-letter Word sollte jedoch ihr bekanntester Song bleiben. Im Jahr 2000 wurde McCormick allerdings inhaftiert und blieb sieben Jahre im Gefängnis, wodurch auch die Band ruhte. Nach seiner Entlassung arbeitete er an neuem Material, starb jedoch 2008 vor der Veröffentlichung.

1994 veröffentlichte die Thrash-Metal-Band Holy Moses eine Metalversion von Hate is a 4-letter Word, im Synth-Rock und Gothic-Bereich wurden es von Terminal ChoiceL'Âme Immortelle und weiteren Bands gecovert.




Sonntag, 9. November 2025

An meine Eltern - Zwei sehr persönliche Nachrufe

Diese Worte vorweg als Warnung an potenzielle Leser:

Es folgen die beiden schwersten und emotionalsten Texte, die ich je geschrieben habe. Es handelt sich um die Nachrufe auf meine Eltern - meinen Vater Wolfgang, verstorben 2021, und meine Mutter Monika, verstorben vor wenigen Monaten im August 2025. Ich schrieb beide Texte für die offiziellen Trauerfeiern und sie wurden bei den Begräbnissen in der Kirche verlesen - einmal von meinem Schwager und einmal von mir selbst. Ich möchte sie nun auch öffentlich teilen.


An meinen Vater, Wolfgang Raschka

“Hast du Angst vor dem Tod”, fragte der kleine Prinz die Rose. Darauf antwortete sie: “Aber nein. Ich habe doch gelebt, ich habe geblüht und meine Kräfte eingesetzt soviel ich konnte. Und Liebe, tausendfach verschenkt, kehrt wieder zurück zu dem, der sie gegeben.”

 

Unser Vater, Wolfgang Raschka, wird dieses Zitat aus einem meiner Lieblingsbücher meiner, Achims, Jugend nicht gekannt haben – es stammt aus dem Buch „Der kleine Prinz“ von dem französischen Autor Antoine de Saint-Exupéry; eines der Bücher, zu denen er früher häufig sagte, ich solle sie weglegen und mir “eine vernünftige Beschäftigung” suchen. Dennoch passt dieses Zitat doch so gut zu ihm, der im Leben alle seine Kräfte für die Menschen aufgebracht und zuletzt auch aufgebraucht hat, die er liebte: seine Frau, seine Kinder und seine Enkel und Enkelinnen, seine Freunde, Nachbarn und Kollegen – und für sein Haus, seinen Garten, seine LKWs.

 

Wolfgang kam im Dezember 1946 zur Welt, ein Jahr nach dem zweiten Weltkrieg. Er war der älteste Sohn in einer kinderreichen Familie und er lernte seine spätere Frau und unsere Mutter Monika wohl schon im Sandkasten kennen, wo sie ihm die Schüppchen klaute und dabei schöne Augen machte; es dauerte aber bis in den März 1970, bis beide gemeinsam vor dem Traualtar standen. Sieben Monate später kam mit mir, Achim,  im Oktober der erste Nachwuchs. Über die Jahre folgten nach und nach vier weitere Kinder  – erst Manuela, dann Markus, Stefan und schließlich Angelika. Unsere Eltern hatte es in den frühen 1970ern von Hemer nach Lippstadt gezogen, wo wir erst in Lipperbruch und später in Dedinghausen aufwuchsen. Unser Vater war zu der Zeit Kraftfahrer mit Leidenschaft, 1975 hatte er bei der damals noch kleinen Spedition Friedrich Biermann in Oestereiden als Fahrer begonnen und blieb dem stetig wachsenden Unternehmen treu, bis er aus gesundheitlichen Gründen aussteigen musste. Ab und an durften wir ihn auch mal begleiten auf einer seiner Touren - für uns immer ein riesiges Abenteuer.

Er hatte ein erfülltes Leben inmitten seiner immer größer werdenden Familie. 1996 wurde er zum ersten Mal Opa (und musste ab dem Zeitpunkt, um ihn zu zitieren, sein Bett “mit einer Oma teilen”), aber das sollte nicht das letzte Mal bleiben. Über die Jahre kamen immer mehr Enkel und Enkelinnen hinzu, insgesamt wurden es bis zu seinem Tod 14, dabei wurde der jüngste, Marlon, erst 2019 geboren. Während der ganzen Zeit galt das folgende Motto, entnommen aus einem Lied des Trucker-Sängers Tom Astor, den er sehr schätzte:

 

Ich weiß, mit mir zu leben Ist manchmal ziemlich schwer.

Ich frag' mich oft, wo nimmst du dafür die Kraft noch her.

Ich hab es dir noch nie gesagt, doch ich weiß genau, 

Ein Mann ist nur ein starker Mann

mit einer starken Frau. 

 

Und durch diese Stärke gefestigt konnten beide, Wolfgang und Monika,  im letzten Jahr, im März 2020, ihre Goldene Hochzeit begehen. 50 Jahre – oder wie es ein anderer seiner Lieblingssänger, Johnny Hill, frei nach Teddybär 1-4 ausdrücken würde: „50 mal die Straße runter und 50 mal auch wieder rauf …“, hielten beide aneinander fest, auch wenn es vor allem bei Wolfgang mit der Gesundheit leider immer deutlicher bergab ging. 
Ein weiteres Jahr blieb Ihnen noch, bis er zu Hause und bei seiner Frau seinen letzten Atemzug nahm und dann friedlich entschlief, während aus den Lautsprechern seine Schlagermusik säuselte. 

Ich schrieb zuletzt, dass ich viele Erinnerungen an meinen Vater habe, viele schöne und auch viele anstrengende. Er war ein anständiger, bodenständiger und meinungsstarker Mann und vertrat seine Ansichten bis weit in seine letzte Lebensphase hinein. Seine Positionen waren dabei nicht immer die unseren und das war auch gut so. Diskussionen mit ihm haben uns nicht selten geärgert und zugleich geerdet und auf den Boden zurückgeholt. Wir waren uns immer so verschieden, lebten in unterschiedlichen Welten  – und sind uns dann doch wieder so gleich.

Das ging uns allen so, unsere Eltern waren uns immer ein Anker im Leben und werden es immer bleiben. Immer, wenn es schwierig wurde, waren sie für uns da – sei es, weil wir im jugendlichen Eifer mal über die Stränge geschlagen sind, wie Markus es sicher für das ein oder andere Mal berichten kann, oder sei es, wenn ich im Tagtraum übersehen hatte, dass das Fahrzeug vor mir auf die Bremse gegangen war und ich sauber drauf fuhr. Unser Vater hat uns alle geliebt – man sah es an seinen Augen, die selbst beim „Böse gucken“ immer freundlich blieben. Er pflegte seinen Ruf als „Grummel“ bis zuletzt, aber letztendlich war er …Papa, den wir so auch immer in Erinnerung halten werden.

Und so endet dieser Trauerbrief nochmal mit einem Zitat eines Autors, den er wahrscheinlich ebenfalls nicht kannte, der aber ganz gut passt:

„Du bist nicht mehr dort, wo du warst. Aber du bist überall, wo wir sind.“ (Victor Hugo)


An meine Mutter, Monika Raschka

“Hast du Angst vor dem Tod”, fragte der kleine Prinz die Rose. Darauf antwortete sie: “Aber nein. Ich habe doch gelebt, ich habe geblüht und meine Kräfte eingesetzt soviel ich konnte. Und Liebe, tausendfach verschenkt, kehrt wieder zurück zu dem, der sie gegeben.”


Mit diesem Zitat aus dem Roman „Der kleine Prinz“ von dem französischen Autor Antoine de Saint-Exupéry, haben wir uns vor wenigen Jahren von unserem Vater verabschiedet und tun dies nun auch von unserer Mutter und Oma, Monika Raschka. Als er eine Woche vor Ostern im Jahr 2021 verstarb, brach für sie eine Welt zusammen und es fiel ihr sehr schwer, diesen Verlust zu akzeptieren; es gelang ihr jedoch, ihr eigenes Leben weiterzuführen, ohne je ganz loszulassen. Nun, etwas mehr als vier Jahre später, folgt sie ihm und wird nun - so wünschen wir es ihr - auf ewig mit ihm verbunden sein. Dieses Zitat hatten wir gewählt, weil es so gut zu ihm passte - und zu ihr passt es nicht minder: Sie hat all ihre Kraft für die Menschen um sie herum aufgebracht und zuletzt auch aufgebraucht, die sie liebte; neben ihrem verstorbenen Mann ganz besonders für uns, für ihre Kinder und ihre Enkel, Enkelinnen und ihrer Ur-Enkelin, sowie für ihre Freunde und Nachbarn.


Im Oktober 2023 durfte sie ihre erste Urenkelin Elaine in den Arm nehmen und noch vor wenigen Wochen war sie bei der Hochzeit von Marvin und Kayleigh zugegen und hat mit uns und ihnen gelacht, gegessen und vor Freude gestrahlt. Natürlich war sie von ihrer Krankheit gezeichnet, aber voll Stolz und Freude, dass sie diesen Augenblick noch erleben und mit uns feiern konnte. Dies war ihr letzter großer Wunsch, der ihr erfüllt wurde, und sie ein wenig glücklicher und zuversichtlicher in die eigene Zukunft und die ihrer Liebsten, ihrer Familie,  blicken ließ.


„Denke an all das Schöne, was in dir selbst und dich herum wächst und sei glücklich!“ (Anne Frank)


Wir blicken zurück auf ihr Leben: Monika, für uns immer Mama oder Oma, lernte ihren späteren Ehemann und unseren Vater Wolfgang wohl schon im Sandkasten kennen, wo sie ihm die Schüppchen und Förmchen klaute und dabei schöne Augen machte; es dauerte aber bis in den März 1970, bis beide gemeinsam vor dem Traualtar standen. Sieben Monate später kam mit Achim der erste Nachwuchs und über die Jahre folgten nach und nach vier weitere Kinder  – erst Manuela, dann Markus, Stefan und schließlich Angelika. Unsere Eltern hat es in den frühen 1970ern von Hemer nach Lippstadt zu ihren Eltern gezogen, wo wir erst in Lipperbruch und später in Dedinghausen aufwuchsen. Unsere Mutter war über all die Jahre bei uns und widmete uns ihre gesamte Kraft, auch wenn das nicht immer einfach war. Erst als die Kinder älter waren, suchte sie sich einen neuen Einstieg ins Berufsleben, erst als Putzfrau in Lippstadts legendärer Disko “Ku” und in der Marienschule und später in der Produktion des Unternehmens Schiffer. Sie war immer bodenständig und bescheiden, zugleich aber auch ambitioniert und pragmatisch - so machte sie als Schichtführerin bei der Arbeit sogar einen Gabelstaplerführerschein, um bei ihrer Arbeit unabhängiger “von den Männern” zu sein.


Mit unserem Vater hatte sie ein erfülltes Leben inmitten ihrer immer größer werdenden Familie. 1996 wurden sie zum ersten Mal Großeltern, aber das sollte nicht das letzte Mal bleiben. Über die Jahre kamen immer mehr Enkel und Enkelinnen hinzu, insgesamt wurden es bis zu ihrem Tod 15, dabei wurde der jüngste, Marian, erst 2021 geboren. Im Oktober 2023 gesellt sich mit Elaine die erste Urenkelin hinzu und auch sie wird nicht die letzte bleiben …


„Familie ist wie ein Baum – die Wurzeln bleiben, egal, wie weit die Äste auch auseinandergehen.“


Durch ihre Stärke gefestigt konnten beide, Wolfgang und Monika, im März 2020 ihre gemeinsame goldene Hochzeit begehen. 50 Jahre hielten beide aneinander fest, auch wenn es vor allem bei Wolfgang mit der Gesundheit leider immer deutlicher bergab ging. Ein Jahr blieb ihnen noch, bis er zu Hause und bei seiner Frau seinen letzten Atemzug nahm und friedlich entschlief. Nun bist auch du für immer eingeschlafen und deine Asche wird zu der seinen gestellt in einer von dir geschaffenen gemeinsamen Nische und neuen Heimat für unsere Erinnerungen an euch beide.


Aber du bleibst, ihr bleibt! Ihr werdet immer einen Platz haben in unseren Gedanken und Erinnerungen, in unseren Plänen für die Zukunft und in unseren Rückblicken auf Vergangenes. Und auch wir bleiben, eure Familie, die ihr beide so fest zusammen geschweisst habt, dass wir bis heute und auch in Zukunft ohne Streit und im festen Vertrauen aufeinander und miteinander umgehen - trotz all und vor allem wegen unserer individuellen und unterschiedlichen Eigenschaften, Stärken und auch Schwächen.

Wir alle, die wir heute hier sind, wurden und werden zusammengehalten durch eure Liebe, euer Vertrauen und eure Arbeit; und nun auch durch die gemeinsame Erinnerung an euch beide. Wir werden auch in Zukunft über und sicher auch häufig mit euch reden, in Gedanken und auch direkt an eurem Grab.

Und so nehmen wir heute Abschied in dem sicheren Wissen, dass eure Spuren in uns weiterleben – in jedem Lachen, in jeder umarmenden Geste, in jedem Familienmoment, den wir teilen. Denn, wie Johann Wolfgang von Goethe es sagte:

„Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren.“


Samstag, 8. November 2025

Back to Mixtape - Bomber (Motörhead)

Wie angekündigt hole ich ein paar ältere Beiträge aus meinem Zweitblog zum Thema: Back to Mitape hierher - hier wäre der nächste, auch dieser nur leicht bearbeitet:

Zu Motörhead braucht man eigentlich nicht viel zu sagen - die Band um den eigenwilligen Frontman Lemmy Kilmister ist schon lange in die Musikgeschichte eingegangen und hat den Heavy Metal ebenso beeinflusst wie den Punkrock und die Rockwelt schlechthin. Das Credo:

    "We are Motörhead and we play Rock'n Roll"

Lemmy gründete die Band 1975, nachdem ihn die Speedrocker Hawkwind,  bei denen er seit 1971 als Bassist aktiv war, nach einer Drogengeschichte gefeuert haben: Lemmy wurde wegen Besitz von Amphetaminen an der mexikanischen Grenze festgehalten und durfte nur gegen Kaution in die USA. Mit seiner neuen Band krempelte er innerhalb von wenigen Jahren die Rockmusik um, Motörhead wurde eine der zentralen Bands der Musik der härteren Machart und lieferte einien Klassiker nach dem anderen. Der bekannteste Song der Band, Ace of Spades, wurde zur Metalhymne und gemeinsam mit dem Snaggletooth zum Markenzeichen der Band.

Bomber erschien 1979 auf dem gleichnamigen Album, das nach Overkill das zweite kommerziell erfolgreiche der Band wurde. Mit Eddie Clarke an der Gitarre und Phil Taylor, Spitzname "Philthy Animal" rockte sich die Band durch das Album und den Song, in deren Mittlpunkt der deutsche Weltkriegsbomber He 111 stand, der auch das Cover des Album zierte.

Inspiriert durch den gleichnamigen Roman Bomber von Len Deighton über einen fehlgeleiteten Luftangriff der britischen Luftwaffe auf Deutschlang schrieb Lemmy seinen Text zu Bomber und damit seinen ersten Song zu einem Kriegsthema, dem etliche weitere folgen sollten. Ein großer Aluminium-Nachbau des Bombers wurde mit auf die Tour genommen und war wahrscheinlich ein ziemlicher Hingucker.

Mehr Infos:
.... zu Cover-Versionen bei cover.info

Back to Mixtape - Teddy Bear (Red Sovine)

Wie angekündigt hole ich ein paar ältere Beiträge aus meinem Zweitblog zum Thema: Back to Mitape hierher - hier wäre der nächste, auch dieser nur leicht bearbeitet:

Geschrieben von den Songschreiben Billy Joe Burnette, Tommy Hill und Dale Royal wurde der Teddy Baer für den im amerikanischen Raum vor allem in den 1960er Jahren durch Truckersongs bekannten Sänger Red Sovine zu dessen größten Hit. Seine erzählenden und weitgehend gesprochen vorgetragenen Titel wie etwa dem Giddy Up GoLittle JoeRubber Duck und vor allem Phantom 309 hatten Sovine den Ruf als "King of the Narrations"  eingebracht. Er war damit als Stimme für den "Teddy Baer" prädestiniert, auch wenn er nach Ansicht des Chefs der Plattenfirma Cedarwood, Bill Denny, dafür eigentlich bereits zu alt war. 

Dale Royal, der sich entgegen der Meinung seines Bosses für Sovine als Interpreten für seinen Song entschied, sollte Recht allerdings behalten: Teddy Baer stieg nach seiner Veröffentlichung 1976 bis auf Platz 1 der Billboard Country Charts und brachte Sovine eine Goldene Schallplatte ein.

Bekannt ist das Lied den meisten im deutschsprachigen Raum allerdings eher durch die tränendrüsenstimulierende deutsche Version des aus Österreich stammenden Schlager- und Countrysängers Jonny Hill. Sein Teddybär Eins-Vier erschien 1979, vier Jahre nach dem Original, im Rahmen einer Sammlung von deutschen Versionen bekannter Country-Songs und wurde über die ZDF-Hitparade zum wohl größten Erfolg und Evergreen des Sängers. Kaum jemand konnte die Tränen unterdrücken, wenn Jonny Hill, eigentlich Ferenc Gillming, zu seiner Gitarre die Geschichte von dem kleinen Jungen im Rollstuhl erzählte, der seine Tage damit verbrachte, mit dem CB-Funk seines verstorbenen Vaters LKW-Fahrer anzufunken und damit einen Fahrer erreichte, der ihm den schönsten Tag im Leben bescherte:

    Ja einer nach dem andren fuhr eine Runde mit Teddybär
    18 mal die Straße runter und 18 mal auch rauf
    Ich war ganz als letzter dran und trug ihn auch wieder hinauf
    Ich hab noch nie ein Kind gesehen, dass so restlos glücklich war
    Und seine Augen strahlten, es war einfach wunderbar


Natürlich haben weitere Künstler den Song aufgegriffen und gecovert. In den Niederlanden erschien bereits 1976 eine Version vom Teddy Beer mit niederländischem Text, der es in die dortigen Charts schaffte, und in den Vereinigten Staaten bedienten sich etwa die bekannten Sänger Boxcar Willie und Ferlin Husky an dem Material. Gunter Gabriel coverte 2004 die deutsche Version des Liedes.

Mehr Infos:
.... zu Cover-Versionen bei cover.info

Sonntag, 2. November 2025

Die Knochen im Schlamm

 im Gau Holstein, mittleres 9. Jhd. - 

Seit Wochen wanderten sie bereits entlang der Æðer bis in die Grenzregion ihres Hoheitsgebietes und nun auch darüber hinaus. Sie plünderten kleinere Ortschaften und Höfe auf den inselartigen Geest-Rücken, nahmen Verpflegung und schlachteten vom Vieh, was sie brauchten. Brennende Häuser hätten die Franken gewarnt, also vermieden sie Feuer und Rauch ließen auch keine Zeugen zurück. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, waren Überlebende, die als Boten zu den fränkischen Lagern durchdringen und von ihrer anrückenden Truppe berichten konnten - und so töteten sie auch die Frauen und die Kinder. Björn, gerade fünfzehn, war längst ein Kämpfer, auch wenn es noch etwas dauern dürfte, bis man ihn einen Krieger, einen drengr, nennen würde. Trotz seines jugendlichen Alters befehligte er als Sohn des Jarls den Trupp.

Sein Clan bildete den Spähtrupp, der die feindlichen Stellungen nahe der Burganlage Ezehoe auskundschaften sollte. Björn verstand nicht sonderlich viel von Politik, aber er wußte: Die Franken und ihr Kaiser Karl wollten ebenso wie die Sachsen die alten Götter stürzen und ihren Christus an deren Stelle setzen. Dem musste man sich als guter Dane entgegenstellen, auch wenn ein besonders schneller Weg nach Walhalla damit vorgezeichnet war. Björns Trupp zog entsprechend hier durch das Moorland, um seinen Beitrag zur Vernichtung der Christen und zum Trutz der alten Götter zu leisten.


1. August 2025, Wacken Open Air -

“Der Schlamm wechselt ständig seine Konsitenz - dickflüssiger Schlamm, dünner Schlamm, wässriger Schlamm und dann wieder fester und klebrig-zäher Schlamm. Und die Steine unter dem Schlamm fühlen sich beim Drauftreten an wie alte Knochen und Schädel, wie die Überreste von Gefallenen einer Schlacht, die nun wieder hoch kommen.” - Während Elke das so vor sich her sagt, stapfen wir weiter durch den zentimeterdicken Schlick, der sich nach den tagelangen Regenfällen und unter den Stiefeln und Doc Martens tausender Festivalgäste gebildet hat. Er besteht tatsächlich aus dünnem Schlamm, Pfützenwasser und dem zähem nassen Lehm, der an unseren Gummistiefeln zerrt - und eben den darin befindlichen kalkigen Steinen, die unter den Sohlen knirschen wie Splitter alter Gebeine. “Stimmt”, antworte ich, “wie die Überreste einer alten Schlacht, die hier vor Jahrhunderten getobt haben könnte.”


“Was willst du heute noch sehen,” frage ich Elke.

Eigentlich hatte sie mir die Frage schon mehrmals beantwortet, aber es war Teil unseres Rituals auf dem langen Weg zu den Bühnen. Noch war es früher Nachmittag, und wir wollten heute mit August Burns Red starten und danach zu AnnisOK - beide aus Erfahrung cool und ein wunderbarer Auftakt für den letzten Festivaltag. Später waren noch Mastodon, Helmet, Gojira und King Diamond geplant - Wir lachten und freuten uns, trotz Regen und Matsch; trotz allem war es einfach ein geiles Festival.

Ich wollte außerdem noch einmal durch die Merchstände: meine Kutte wartete seit Monaten auf den passenden Backpatch und auch den Rest hatte ich noch nicht aufgenäht. Fände ich auch heute nichts Passendes, würde wieder ein Jahr ohne Kutte vergehen.


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Gau Holstein - 

Der Regen stürzte seit Tagen vom Himmel, und der moorige Boden war so aufgeweicht, dass jeder Schritt zur Qual wurde. Schlamm sog an den Beinen der Männer, als wollte er sie schon vor der Schlacht verschlingen. Der Clan bot Thor und auch Freyja Blutopfer von ihrem letzten Raubzug und sprengten es auf ihre Körper und Waffen. Sie baten um besseres Wetter - und den Sieg über ihre Feinde. Außerdem riefen sie Odin an und legten Runen, um den bevorstehenden Kampf zu ihren Gunsten zu wenden. Dabei sangen sie und ritzen einander Zeichen der Stärke in die Haut – Runen, Symbole, Narben. Jeder Schnitt, jeder Tropfen Blut sollte die Götter gnädig stimmen, bevor sie sich im wirklichen Kampf verausgaben mussten.


Sie saßen so auch an ihrem letzten Abend beisammen und ließen ihren Met kreisen. Wie üblich stieg der Abendnebel aus dem Moor und legte sich mit seiner nassen Kälte über sie, kroch in ihre Glieder und ließ sie frösteln. Doch diesmal war etwas anders: Mit dem Nebel stieg ein grünliches Leuchten auf, das die Nacht in einen unheimlichen Schimmer tauchte. Wie Schwaden stiegen Dampfwolken aus dem Boden, als ob die Erde selbst atmete. Björn hielt den Becher fest umklammert, während das Leuchten stärker wurde und das Moor unter ihnen zu glimmen begann. Manche sagten, es sei Odin, der sie rief. Andere flüsterten, es sei Hel, die ihre Schatten holen wolle. Doch ehe sie noch darüber stritten, sahen sie sich umzingelt - nicht von den Franken oder Sachsen, sondern von den Gefallenen alter Schlachten. Sie warfen sich auf den überrumpelten Clan, das Moor wurde ein brodelnder Kessel aus Lärm, Schlamm, Blut und zersplitterndem Holz. Björn nahm den Schatten eines Angreifers an seiner Seite wahr, doch seine scharfe Axt durchschnitt nur Nebelschwaden. Dann jedoch durchbohrte ihn ein Speer aus echtem, kalten Metall; er drang in seine Brust und glitt dann abwärts durch die Lunge und das Herz, um am Rücken wieder auszutreten. Noch ein paar einzelne japsende Atemzüge blieben ihm, danach war Stille. Und am Morgen lag nur noch der Nebel schwer über dem Moor, das ihre Körper bereits in sich aufnahm.


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Wacken - 

Der Abend näherte sich seinem Höhepunkt. Alle Bands lieferten erwartet cool ab und als dann zur Krönung King Diamond mit seiner markanten Gesichtsbemalung die Bühne betrat, kochte die Crowd über. Als der dänische Metalgott symbolisch die Puppe namens “Abigail” opferte, gab es laute Hurra-Rufe.


King Diamond auf dem Wacken Open Air 2025
(Dario de Marco, Public Doman)


Die Festivalcrew hatte sich für diesen Moment offensichtlich für dieses Jahr einen ganz besonderen Effekt ausgedacht: Aus unsichtbaren Düsen auf dem Feld vor den Hauptbühnen strömten Nebelschwaden heraus und hüllten das Publikum ein, zugleich stieg ein grünliches Leuchten vom Boden aus verborgenen Lichtern auf, das alle in einen unheimlichen Schimmer tauchte. Einen solchen Effekt hatten die Metalheads vor der Bühne noch nie erlebt - Manche lachten, viele jubelten und die zwischen ihnen auftauchenden Schatten weiterer Gäste in Wikingerkostümen nahmen sie zuerst kaum wahr. Der Nebel war jetzt so dicht, dass man kaum mehr die Hand vor Augen sah, und das grünliche Licht ließ Gesichter fahl und tot wirken. Aus dem Nebel traten Gestalten – groß, breit, in zerfetzten Rüstungen, Äxte in den Händen, die in dem künstlichen Licht metallisch aufblitzten. Zuerst hielt man sie ebenfalls für eine Show-Einlage, ein weiteres Festival-Gimmick. Doch dann zischte etwas durch die Luft, dumpf folgte ein Schlag, und jemand fiel.

Es war, als erwachte das Feld selbst unter unseren Füßen zum Leben. Der Boden bebte, Nebel wälzte sich in Wellen durch die Menge, und zwischen den Lautsprechertürmen begann etwas zu schreien – nicht menschlich, sondern tief, uralt, wie der Nachhall von Hörnern über dem Fjord eines Computerspiels. Wir rannten, stolperten, rutschten im Schlamm aus - andere standen wie erstarrt, geblendet vom Licht und dem Blut, das sich in den Pfützen sammelte. Die Musik spielte weiter, als hätte sie niemand mehr unter Kontrolle. King Diamond schrie auf der Bühne in die Leere, die Gitarre jaulte wie ein Alarm. Dann – Stromausfall. Finsternis. Nur noch Nebel, Schreie, dumpfes Schlagen, Panik; und dann war alles auch schon wieder vorbei.

Kurz darauf wurde das Gelände geräumt und die noch laufenden Konzerte abgebrochen. Wir alle mussten zurück in unsere Zelte und als die Sonne am nächsten Morgen über dem Gelände aufging, war der schlammige Boden vor den Bühnen zerwühlt und leer. Man sagt, einige der Besucher seien in jener Nacht verschwunden; ihre Zelte blieben leer, man fand von ihnen nichts mehr und sie tauchten auch nicht wieder auf. Niemand weiß, wohin sie gingen – oder was sie mitnahm. Auch Elke war verschwunden und ich glaube, der Boden hat sie zusammen mit den anderen in sich aufgenommen.Nur der Schlamm blieb. Dickflüssig, dunkel, mit weißen Splittern darin – wie alte Knochen, die wieder hochkommen wollen.



Auch hierzu ein paar Hintergründe. 
Diese Geschichte entstand als Beitrag der diesjährigen Halloween-Lesung der Szene 93 als eine von mehreren Ideen, die es dann auch auf die Bühne brachte. Natürlich ist sie fiktiv, sie orientiert sich jedoch sowohl bei der Beschreibung der Wikingerzeit wie auch beim Wacken Open Air an tatsächlichen Begebenheiten.

Elke ist eine reale Person und sie lebt noch, sie kennt die Geschichte und stand mir mit Kritik zur Seite.

Freitag, 31. Oktober 2025

Back to Mixtape - Do What I Say (Clawfinger)

Wie angekündigt hole ich ein paar ältere Beiträge aus meinem Zweitblog zum Thema: Back to Mitape hierher - hier wäre der nächste, auch dieser nur leicht bearbeitet:

    When I grow up there will be a day
    when everybody has to do what I say

Eingesungen von einem kleinen Jungen mit Superheldenmaske machen diese Worte nachdenklich bis verstörend. Das Lied erschien 1995 auf dem zweiten Album der schwedisch-norwegischen Band Clawfinger mit dem bedeutungsträchtigen Titel Use your Brain.


Die Band positionierte sich bereits durch ihr Debüt Deaf Dumb Blind im Jahr 1993 als Pionierband für den damals gerade beginnenden Crossover-Trend zwischen Rap und Metal und handelten sich mit dem Song Nigger direkt einen handfesten Rassismus-Skandal ein. Das eigentlich anti-rassistisch motivierte Lied wurde, nachdem es auf M-TV und VIVA gelaufen war, scharf kritisiert und der Band wurde eine Nähe zu rechtem Gedankengut  unterstellt. Clawfinger konnerten mit der Veröffentlichung Braindead auf einem Stockholmer Antifa-Sampler und wiesen auf den tatsächlichen Charakter des Nigger-Tracks hin. Kurz darauf erschien The Truth in der Rotation und die Band wurde auch über ihre Heimat hinaus bekannt. Sie tourten mit Bands wie Die Krupps, deren Song To the Hilt von Clawfinger remixed wurde, sowie mit Alice in ChainsPantera und Anthrax.

Use your Brain erschien zwei Jahre später, 1995, und griff den Stil von seinem Vorgänger ziemlich unverändert wieder auf (böse Zungen sprechen von "keine Weiterentwicklung). Do What I Say wurde neben Pin me down einer der Radio- und Videohits des Albums. Besonders einprägsam brennt sich dabei die eingangs zitierte Zeile ins Hirn, die von den Brüdern Cederic und Sebastian St. Just erst gesungen und später auch geschrien wurden. Stellt sich die Frage, warum sie eigentlich bestimmen wollen, was alle zu tun haben? Das Lied stellt die Konflikte zwischen Eltern und Kindern während der Erziehung dar - das ständige "tu dies, tu das" der Eltern:

    Don't do this don't do that
    Don't you ever talk back
    Don't speak with food in your mouth
    Just keep quiet while the grown ups are talking
    I'm not being mean I'm just being fair
    It's just because I really care
    You know that I love you
    But shut your mouth you just have to do what I say

Laut Wikipedia-Artikel und der darin angegebenen Quelle haben die Musiker den Kindern erzählt, sie hätten ihre Gameboys verkauft, um sie richtig wütend zu machen und die für den Refrain nötige Wut in den Stimmen zu erreichen -hat geklappt.

Clawfinger sind weiterhin - nach ein paar Jahren Pause bis 2017 - aktiv und waren auch 2025 beim Wacken Open Air zu Gast, wo ich sie zum ersten Mal live erleben durfte. Es war eine sehr angenehme Show mit einem hochsympathischen und bescheidenen Zak Tell, der viele Geschichten aus dem (Band)leben wiedergab. Do what I say mit Bandeinspielung des Originalgesangs der Kinder war natürlich neben anderen Klassikern, für mich etwa ihr Biggest & the Best, das Highlight des Auftritts. Nigger wurde dagegen nicht gespielt. 

Dienstag, 28. Oktober 2025

Back to Mixtape - The Healer (John Lee Hooker & Carlos Santana)

Ein Hinweis vorweg: Ich hatte zwischenzeitlich tatsächlich mal einen Zweitblog gestartet, das aber schnell wieder aufgegeben. Das Thema: Back to Mitape - die Vorstellung von Songs, die es auf meine Sammlung von 90-Minuten-Playlists schaffen (was nicht so schwer ist ...). Ich werde diese Texte nun nach und nach hierher holen und dabei nur leicht überarbeiten.

Das Duett The Healer erschien 1989 auf dem gleichnamigen Album von John Lee Hooker als Titel- und Eingangssong. Hooker war zu dem Zeitpunkt 72 Jahre alt und konnte auf ein erfolgreiches Leben als Blues-Gott zurückblicken, der seit den 1940er Jahren den Delta Blues (Blues aus dem Mississippi-Delta) stark mitprägte. Der als Gitarrist bekannte Carlos Santana war einer der Gastmusiker auf dem Album.

Hooker veröffentlichte 1948 seine ersten Singles und konnte mit Boogie Chillen' direkt einen Bluesklassiker und No-1-Hit der Billboard-R&B-Charts landen, seitdem folgten Single auf Single und seit 1959 Album auf Album. I'm in the Mood von 1951, auf dem 1989er-Album The Healer in einer grammy-prämierten Version mit Bonnie Raitt enthalten, wurde ebenfalls zu einem Millionenseller, und so produzierte er einen Blueshit nach dem anderen. Über seine über 50 Jahre andauernden Karriere hat er wahrscheinlich mehr als 500 Songs geschrieben und gesungen und dabei seinen Stil immer neu entwickelt. 1980 wurde er entsprechend in die Blues Hall of Fame aufgenommen, 1991 aufgrund seines Einflusses auf Bluesrockbands wie The Rolling Stones, The Yardbirds, The Animals und viele andere zusätzlich in die Rock'n Roll Hall of Fame. Ebenfalls 1980 hatte er Gatsauftritte in dem Kultfilm Blues Brothers und spielte dort seine Songs Boom Boom und Boogie Chillen'.

Trotz dieser Erfolge war das Album The Healer meine Erstbegnung mit John Lee Hooker. Er hatte sich hier mit mehreren Gastmusikern zusammengetan, um einige Klassiker und neue Songs aufzunehmen. The Healer spielte er gemeinsam mit Carlos Santana, I'm in the Mood mit Bonnie Riatt. Zudem lieferten Canned HeatLos LobosGeorge Thorogood und Charlie Musselwhite Duette auf dem Album mit Hooker, der das Album mit weiteren Titeln zu einem unheimlich intensiven Gesamtwerk abrundete.


Mehr Infos:

Montag, 27. Oktober 2025

Heddinghoven

Der morgendliche Herbstnebel liegt auf den Feldern um Lechenich und hüllt auch die Grabsteine und die alte Kapelle auf dem Friedhof von Heddinghoven ein. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, man kann ihren Aufstieg jedoch bereits erahnen. Die Fledermäuse sind bereits in ihre Quartiere in den hohen Bäumen um die Gräber, dem Dach der Kapelle oder dem nahen Gebäude der alten Weltersmühle zurückgekehrt. Der alte Friedhof vor den Toren von Lechenich scheint ruhig - die huschenden Gestalten im Nebel unsichtbar.

Friedhofskapelle Heddinghoven (eigenes Bild, CC-by-sa 4.0)

Bereits seit dem 12. Jahrhundert befand sich hier die alte Pfarrkirche von Konradsheim, heute als Friedhofskapelle genutzt, und damals wurden auf ihrem Kirchhof die Leichen der Toten von Blessem und Konradsheim beerdigt. Als 1795 die Bestattung der Lechenicher Toten im Kirchhof von St. Kilian per Erlass der Franzosen verboten wurde, kamen sie ebenfalls hierher und das Gelände an seine Grenzen; es musste 1819 vergrößert werden. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wütete im Rheinland eine verhängnisvolle Pockenepidemie und vor allem viele Kinder starben. Erst mit den Anfängen der Schutzimpfung um 1801 – durchgeführt von Ärzten wie Reumont in Aachen – kam eine zaghafte Hoffnung auf ein Ende des Fluchs in die Dörfer links des Rheins. Einige Jahre später, um 1813 bis 1814, wurde das Rheinland von einem erneuten Grauen heimgesucht: dem Fleckfieber, auch „Typhus von Mainz“ genannt. Auf dem Gelände wurden in diesen Jahrzehnten zeitweise so viele Leichen zu Grabe getragen, dass die regulären Ruhezeiten der älteren Gräber nicht mehr eingehalten werden konnten und die Körper nicht mal mehr genug Zeit hatten, vor einer Neubelegung eines Grabes ordentlich zu verwesen. Manche Gräber wurden kaum geschlossen, bevor sie wieder geöffnet werden mussten, und nicht selten wurden die Kinder in derselben noch frischen Erde begraben wie ihre Eltern. Es hieß, dass die Erde damals so voll war, dass die Seelen hier keinen Platz mehr fanden. Einige Kinder standen wieder auf, so sagte man – nicht, weil sie leben wollten, sondern weil die Erde ihnen keine Ruhe gewährte.


Heute hat man diese Zeiten vergessen. Der Friedhof wurde mehrfach vergrößert und modernisiert, Spuren des alten Kirchhofs oder Grabstellen dieser Zeit sucht man selbst in der direkten Umgebung der Kapelle vergebens. Nur wer alte Chroniken liest oder den Geschichten lauschte, weiß, dass hier einst in kurzer Folge so viele Kinder und Erwachsene beigesetzt wurden, dass die Erde kaum nachkam, sie aufzunehmen. Doch wer auch heute noch im frühen Herbstnebel zwischen den Gräbern geht, spürt manchmal Schritte dicht hinter sich oder hört leises Wispern – dreht man sich um, ist niemand da. Fast glaubt man, dass man leises Kinderflüstern hört und kleine huschende Schatten erahnt, die wie die Fledermäuse zwischen den Bäumen flattern. Einige Nachbarn erzählen, dass es besonders in Nächten ohne Mond unheimlich still wird. Dann verstummen sogar die Käuze und wer sich zu lange im Nebel aufhält, hat das Gefühl, nicht lange allein zu sein. Manche schwören, dass zwischen den Gräbern kleine Gestalten herumhuschen – zu groß für Fledermäuse, zu leicht für Menschen.

In einer jener Herbstnächte, als der Nebel selbst die Mauern der Kapelle verschluckte, schwor ein junger Mann aus Lechenich, er habe beim Durchqueren des Geländes nach durchzechter Nacht eine Bewegung zwischen den Gräbern gesehen. Zuerst hielt er es für eine Fledermaus, dann für einen Hund. Doch was sich dort regte, war kleiner, schemenhaft – wie ein Kind, das gebückt über die Steine huschte. Er blieb stehen, rief, doch die Gestalt antwortete nicht. Stattdessen waren plötzlich mehrere Schatten da, drei, vier, fünf – blass im Nebel, mit Augen dunkel wie die Erde. Sie bewegten sich nicht auf ihn zu, sondern kreisten ihn ein, langsam und fast lautlos. Nur das Rascheln ihrer Schritte im nebelfeuchten Laub war zu hören, wie ein fremder Rhythmus. Da spürte er einen Hauch im Nacken und als er sich umdrehte, stand dicht hinter ihm ein Mädchen, sehr jung und sehr bleich und mit einem Ausdruck im Gesicht, der nicht kindlich war. Er wollte schreien, doch in diesem Moment öffnete sie den Mund – mit Zähnen, lang und spitz wie Dornen. Am nächsten Morgen fanden ihn Spaziergänger am Tor des Friedhofs, bewusstlos und die Haut eiskalt. An seinem Hals hatte er einige winzige Verletzungen, kaum größer als Stiche einer Mücke, die nicht mehr verschwanden – sein Gesicht ist seither so blass wie das der Kinder, die er zwischen den Gräbern sah, und er wirkt noch heute schwach und kränkelnd; doch niemand glaubte ihm seine Geschichte. Und doch: Vielleicht fanden die Seelen der Kinder der Seuchenjahre vor über 200 Jahren nie wirklich Frieden. Vielleicht streifen sie auch heute noch als Hungernde durch den Nebel und suchen Wärme, Blut und Atem. Normalerweise laben sie sich vielleicht an den Tieren der Nacht, doch wer nächtens in Heddinghoven Schritte hinter sich hört, sollte niemals stehen bleiben. Denn was folgt, gehört vielleicht längst nicht mehr zu den Lebenden.



Auch hierzu ein paar Hintergründe. Beim Blogbeitrag zum Hörtert schrieb ich, dass ich mich mit kreativem Schreiben befassen möchte und im Wintersemester 2015 einen entsprechenden Kurs bei der wunderbaren Vera Gercke belegt habe. In ihrem Blog hat sie viele gute Tipps zum Schreiben gesammelt, sich da mal reinzulesen, lohnt auf jeden Fall

Viel ist seitdem in der Richtung bei mir allerdings nicht geschehen - wird also mal wieder Zeit. Diese Geschichte entstand in Vorbereitung der diesjährigen Halloween-Lesung der Szene 93 als eine von mehreren Ideen - schlussendlich habe ich mich jedoch für eine andere Geschichte entschieden, die wahrscheinlich nach der Veranstaltung auch hier erscheinen wird.

Die schwere Stunde

Sie brachten uns in einen abgedunkelten, fensterlosen und schwülwarmen Raum, in dem bereits mehrere Frauen und vereinzelt auch Männer saßen....