Sonntag, 2. November 2025

Herr R. schreibt: Die Knochen im Schlamm

 im Gau Holstein, mittleres 9. Jhd. - 

Seit Wochen wanderten sie bereits entlang der Æðer bis in die Grenzregion ihres Hoheitsgebietes und nun auch darüber hinaus. Sie plünderten kleinere Ortschaften und Höfe auf den inselartigen Geest-Rücken, nahmen Verpflegung und schlachteten vom Vieh, was sie brauchten. Brennende Häuser hätten die Franken gewarnt, also vermieden sie Feuer und Rauch ließen auch keine Zeugen zurück. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, waren Überlebende, die als Boten zu den fränkischen Lagern durchdringen und von ihrer anrückenden Truppe berichten konnten - und so töteten sie auch die Frauen und die Kinder. Björn, gerade fünfzehn, war längst ein Kämpfer, auch wenn es noch etwas dauern dürfte, bis man ihn einen Krieger, einen drengr, nennen würde. Trotz seines jugendlichen Alters befehligte er als Sohn des Jarls den Trupp.

Sein Clan bildete den Spähtrupp, der die feindlichen Stellungen nahe der Burganlage Ezehoe auskundschaften sollte. Björn verstand nicht sonderlich viel von Politik, aber er wußte: Die Franken und ihr Kaiser Karl wollten ebenso wie die Sachsen die alten Götter stürzen und ihren Christus an deren Stelle setzen. Dem musste man sich als guter Dane entgegenstellen, auch wenn ein besonders schneller Weg nach Walhalla damit vorgezeichnet war. Björns Trupp zog entsprechend hier durch das Moorland, um seinen Beitrag zur Vernichtung der Christen und zum Trutz der alten Götter zu leisten.


1. August 2025, Wacken Open Air -

“Der Schlamm wechselt ständig seine Konsitenz - dickflüssiger Schlamm, dünner Schlamm, wässriger Schlamm und dann wieder fester und klebrig-zäher Schlamm. Und die Steine unter dem Schlamm fühlen sich beim Drauftreten an wie alte Knochen und Schädel, wie die Überreste von Gefallenen einer Schlacht, die nun wieder hoch kommen.” - Während Elke das so vor sich her sagt, stapfen wir weiter durch den zentimeterdicken Schlick, der sich nach den tagelangen Regenfällen und unter den Stiefeln und Doc Martens tausender Festivalgäste gebildet hat. Er besteht tatsächlich aus dünnem Schlamm, Pfützenwasser und dem zähem nassen Lehm, der an unseren Gummistiefeln zerrt - und eben den darin befindlichen kalkigen Steinen, die unter den Sohlen knirschen wie Splitter alter Gebeine. “Stimmt”, antworte ich, “wie die Überreste einer alten Schlacht, die hier vor Jahrhunderten getobt haben könnte.”


“Was willst du heute noch sehen,” frage ich Elke.

Eigentlich hatte sie mir die Frage schon mehrmals beantwortet, aber es war Teil unseres Rituals auf dem langen Weg zu den Bühnen. Noch war es früher Nachmittag, und wir wollten heute mit August Burns Red starten und danach zu AnnisOK - beide aus Erfahrung cool und ein wunderbarer Auftakt für den letzten Festivaltag. Später waren noch Mastodon, Helmet, Gojira und King Diamond geplant - Wir lachten und freuten uns, trotz Regen und Matsch; trotz allem war es einfach ein geiles Festival.

Ich wollte außerdem noch einmal durch die Merchstände: meine Kutte wartete seit Monaten auf den passenden Backpatch und auch den Rest hatte ich noch nicht aufgenäht. Fände ich auch heute nichts Passendes, würde wieder ein Jahr ohne Kutte vergehen.


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Gau Holstein - 

Der Regen stürzte seit Tagen vom Himmel, und der moorige Boden war so aufgeweicht, dass jeder Schritt zur Qual wurde. Schlamm sog an den Beinen der Männer, als wollte er sie schon vor der Schlacht verschlingen. Der Clan bot Thor und auch Freyja Blutopfer von ihrem letzten Raubzug und sprengten es auf ihre Körper und Waffen. Sie baten um besseres Wetter - und den Sieg über ihre Feinde. Außerdem riefen sie Odin an und legten Runen, um den bevorstehenden Kampf zu ihren Gunsten zu wenden. Dabei sangen sie und ritzen einander Zeichen der Stärke in die Haut – Runen, Symbole, Narben. Jeder Schnitt, jeder Tropfen Blut sollte die Götter gnädig stimmen, bevor sie sich im wirklichen Kampf verausgaben mussten.


Sie saßen so auch an ihrem letzten Abend beisammen und ließen ihren Met kreisen. Wie üblich stieg der Abendnebel aus dem Moor und legte sich mit seiner nassen Kälte über sie, kroch in ihre Glieder und ließ sie frösteln. Doch diesmal war etwas anders: Mit dem Nebel stieg ein grünliches Leuchten auf, das die Nacht in einen unheimlichen Schimmer tauchte. Wie Schwaden stiegen Dampfwolken aus dem Boden, als ob die Erde selbst atmete. Björn hielt den Becher fest umklammert, während das Leuchten stärker wurde und das Moor unter ihnen zu glimmen begann. Manche sagten, es sei Odin, der sie rief. Andere flüsterten, es sei Hel, die ihre Schatten holen wolle. Doch ehe sie noch darüber stritten, sahen sie sich umzingelt - nicht von den Franken oder Sachsen, sondern von den Gefallenen alter Schlachten. Sie warfen sich auf den überrumpelten Clan, das Moor wurde ein brodelnder Kessel aus Lärm, Schlamm, Blut und zersplitterndem Holz. Björn nahm den Schatten eines Angreifers an seiner Seite wahr, doch seine scharfe Axt durchschnitt nur Nebelschwaden. Dann jedoch durchbohrte ihn ein Speer aus echtem, kalten Metall; er drang in seine Brust und glitt dann abwärts durch die Lunge und das Herz, um am Rücken wieder auszutreten. Noch ein paar einzelne japsende Atemzüge blieben ihm, danach war Stille. Und am Morgen lag nur noch der Nebel schwer über dem Moor, das ihre Körper bereits in sich aufnahm.


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Wacken - 

Der Abend näherte sich seinem Höhepunkt. Alle Bands lieferten erwartet cool ab und als dann zur Krönung King Diamond mit seiner markanten Gesichtsbemalung die Bühne betrat, kochte die Crowd über. Als der dänische Metalgott symbolisch die Puppe namens “Abigail” opferte, gab es laute Hurra-Rufe.


King Diamond auf dem Wacken Open Air 2025
(Dario de Marco, Public Doman)


Die Festivalcrew hatte sich für diesen Moment offensichtlich für dieses Jahr einen ganz besonderen Effekt ausgedacht: Aus unsichtbaren Düsen auf dem Feld vor den Hauptbühnen strömten Nebelschwaden heraus und hüllten das Publikum ein, zugleich stieg ein grünliches Leuchten vom Boden aus verborgenen Lichtern auf, das alle in einen unheimlichen Schimmer tauchte. Einen solchen Effekt hatten die Metalheads vor der Bühne noch nie erlebt - Manche lachten, viele jubelten und die zwischen ihnen auftauchenden Schatten weiterer Gäste in Wikingerkostümen nahmen sie zuerst kaum wahr. Der Nebel war jetzt so dicht, dass man kaum mehr die Hand vor Augen sah, und das grünliche Licht ließ Gesichter fahl und tot wirken. Aus dem Nebel traten Gestalten – groß, breit, in zerfetzten Rüstungen, Äxte in den Händen, die in dem künstlichen Licht metallisch aufblitzten. Zuerst hielt man sie ebenfalls für eine Show-Einlage, ein weiteres Festival-Gimmick. Doch dann zischte etwas durch die Luft, dumpf folgte ein Schlag, und jemand fiel.

Es war, als erwachte das Feld selbst unter unseren Füßen zum Leben. Der Boden bebte, Nebel wälzte sich in Wellen durch die Menge, und zwischen den Lautsprechertürmen begann etwas zu schreien – nicht menschlich, sondern tief, uralt, wie der Nachhall von Hörnern über dem Fjord eines Computerspiels. Wir rannten, stolperten, rutschten im Schlamm aus - andere standen wie erstarrt, geblendet vom Licht und dem Blut, das sich in den Pfützen sammelte. Die Musik spielte weiter, als hätte sie niemand mehr unter Kontrolle. King Diamond schrie auf der Bühne in die Leere, die Gitarre jaulte wie ein Alarm. Dann – Stromausfall. Finsternis. Nur noch Nebel, Schreie, dumpfes Schlagen, Panik; und dann war alles auch schon wieder vorbei.

Kurz darauf wurde das Gelände geräumt und die noch laufenden Konzerte abgebrochen. Wir alle mussten zurück in unsere Zelte und als die Sonne am nächsten Morgen über dem Gelände aufging, war der schlammige Boden vor den Bühnen zerwühlt und leer. Man sagt, einige der Besucher seien in jener Nacht verschwunden; ihre Zelte blieben leer, man fand von ihnen nichts mehr und sie tauchten auch nicht wieder auf. Niemand weiß, wohin sie gingen – oder was sie mitnahm. Auch Elke war verschwunden und ich glaube, der Boden hat sie zusammen mit den anderen in sich aufgenommen.Nur der Schlamm blieb. Dickflüssig, dunkel, mit weißen Splittern darin – wie alte Knochen, die wieder hochkommen wollen.



Auch hierzu ein paar Hintergründe. 
Diese Geschichte entstand als Beitrag der diesjährigen Halloween-Lesung der Szene 93 als eine von mehreren Ideen, die es dann auch auf die Bühne brachte. Natürlich ist sie fiktiv, sie orientiert sich jedoch sowohl bei der Beschreibung der Wikingerzeit wie auch beim Wacken Open Air an tatsächlichen Begebenheiten.

Elke ist eine reale Person und sie lebt noch, sie kennt die Geschichte und stand mir mit Kritik zur Seite.

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