Montag, 27. Oktober 2025

Herr R. schreibt: Heddinghoven

Der morgendliche Herbstnebel liegt auf den Feldern um Lechenich und hüllt auch die Grabsteine und die alte Kapelle auf dem Friedhof von Heddinghoven ein. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, man kann ihren Aufstieg jedoch bereits erahnen. Die Fledermäuse sind bereits in ihre Quartiere in den hohen Bäumen um die Gräber, dem Dach der Kapelle oder dem nahen Gebäude der alten Weltersmühle zurückgekehrt. Der alte Friedhof vor den Toren von Lechenich scheint ruhig - die huschenden Gestalten im Nebel unsichtbar.

Friedhofskapelle Heddinghoven (eigenes Bild, CC-by-sa 4.0)

Bereits seit dem 12. Jahrhundert befand sich hier die alte Pfarrkirche von Konradsheim, heute als Friedhofskapelle genutzt, und damals wurden auf ihrem Kirchhof die Leichen der Toten von Blessem und Konradsheim beerdigt. Als 1795 die Bestattung der Lechenicher Toten im Kirchhof von St. Kilian per Erlass der Franzosen verboten wurde, kamen sie ebenfalls hierher und das Gelände an seine Grenzen; es musste 1819 vergrößert werden. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wütete im Rheinland eine verhängnisvolle Pockenepidemie und vor allem viele Kinder starben. Erst mit den Anfängen der Schutzimpfung um 1801 – durchgeführt von Ärzten wie Reumont in Aachen – kam eine zaghafte Hoffnung auf ein Ende des Fluchs in die Dörfer links des Rheins. Einige Jahre später, um 1813 bis 1814, wurde das Rheinland von einem erneuten Grauen heimgesucht: dem Fleckfieber, auch „Typhus von Mainz“ genannt. Auf dem Gelände wurden in diesen Jahrzehnten zeitweise so viele Leichen zu Grabe getragen, dass die regulären Ruhezeiten der älteren Gräber nicht mehr eingehalten werden konnten und die Körper nicht mal mehr genug Zeit hatten, vor einer Neubelegung eines Grabes ordentlich zu verwesen. Manche Gräber wurden kaum geschlossen, bevor sie wieder geöffnet werden mussten, und nicht selten wurden die Kinder in derselben noch frischen Erde begraben wie ihre Eltern. Es hieß, dass die Erde damals so voll war, dass die Seelen hier keinen Platz mehr fanden. Einige Kinder standen wieder auf, so sagte man – nicht, weil sie leben wollten, sondern weil die Erde ihnen keine Ruhe gewährte.


Heute hat man diese Zeiten vergessen. Der Friedhof wurde mehrfach vergrößert und modernisiert, Spuren des alten Kirchhofs oder Grabstellen dieser Zeit sucht man selbst in der direkten Umgebung der Kapelle vergebens. Nur wer alte Chroniken liest oder den Geschichten lauschte, weiß, dass hier einst in kurzer Folge so viele Kinder und Erwachsene beigesetzt wurden, dass die Erde kaum nachkam, sie aufzunehmen. Doch wer auch heute noch im frühen Herbstnebel zwischen den Gräbern geht, spürt manchmal Schritte dicht hinter sich oder hört leises Wispern – dreht man sich um, ist niemand da. Fast glaubt man, dass man leises Kinderflüstern hört und kleine huschende Schatten erahnt, die wie die Fledermäuse zwischen den Bäumen flattern. Einige Nachbarn erzählen, dass es besonders in Nächten ohne Mond unheimlich still wird. Dann verstummen sogar die Käuze und wer sich zu lange im Nebel aufhält, hat das Gefühl, nicht lange allein zu sein. Manche schwören, dass zwischen den Gräbern kleine Gestalten herumhuschen – zu groß für Fledermäuse, zu leicht für Menschen.

In einer jener Herbstnächte, als der Nebel selbst die Mauern der Kapelle verschluckte, schwor ein junger Mann aus Lechenich, er habe beim Durchqueren des Geländes nach durchzechter Nacht eine Bewegung zwischen den Gräbern gesehen. Zuerst hielt er es für eine Fledermaus, dann für einen Hund. Doch was sich dort regte, war kleiner, schemenhaft – wie ein Kind, das gebückt über die Steine huschte. Er blieb stehen, rief, doch die Gestalt antwortete nicht. Stattdessen waren plötzlich mehrere Schatten da, drei, vier, fünf – blass im Nebel, mit Augen dunkel wie die Erde. Sie bewegten sich nicht auf ihn zu, sondern kreisten ihn ein, langsam und fast lautlos. Nur das Rascheln ihrer Schritte im nebelfeuchten Laub war zu hören, wie ein fremder Rhythmus. Da spürte er einen Hauch im Nacken und als er sich umdrehte, stand dicht hinter ihm ein Mädchen, sehr jung und sehr bleich und mit einem Ausdruck im Gesicht, der nicht kindlich war. Er wollte schreien, doch in diesem Moment öffnete sie den Mund – mit Zähnen, lang und spitz wie Dornen. Am nächsten Morgen fanden ihn Spaziergänger am Tor des Friedhofs, bewusstlos und die Haut eiskalt. An seinem Hals hatte er einige winzige Verletzungen, kaum größer als Stiche einer Mücke, die nicht mehr verschwanden – sein Gesicht ist seither so blass wie das der Kinder, die er zwischen den Gräbern sah, und er wirkt noch heute schwach und kränkelnd; doch niemand glaubte ihm seine Geschichte. Und doch: Vielleicht fanden die Seelen der Kinder der Seuchenjahre vor über 200 Jahren nie wirklich Frieden. Vielleicht streifen sie auch heute noch als Hungernde durch den Nebel und suchen Wärme, Blut und Atem. Normalerweise laben sie sich vielleicht an den Tieren der Nacht, doch wer nächtens in Heddinghoven Schritte hinter sich hört, sollte niemals stehen bleiben. Denn was folgt, gehört vielleicht längst nicht mehr zu den Lebenden.



Auch hierzu ein paar Hintergründe. Beim Blogbeitrag zum Hörtert schrieb ich, dass ich mich mit kreativem Schreiben befassen möchte und im Wintersemester 2015 einen entsprechenden Kurs bei der wunderbaren Vera Gercke belegt habe. In ihrem Blog hat sie viele gute Tipps zum Schreiben gesammelt, sich da mal reinzulesen, lohnt auf jeden Fall

Viel ist seitdem in der Richtung bei mir allerdings nicht geschehen - wird also mal wieder Zeit. Diese Geschichte entstand in Vorbereitung der diesjährigen Halloween-Lesung der Szene 93 als eine von mehreren Ideen - schlussendlich habe ich mich jedoch für eine andere Geschichte entschieden, die wahrscheinlich nach der Veranstaltung auch hier erscheinen wird.

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Herr R. schreibt: Heddinghoven

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