Donnerstag, 8. September 2011

„Ach heile mich, du Arzt der Seelen"

Als vor 10 Jahren die Wikipedia, damals einziges Projekt der noch nicht existierenden Wikimedia Foundation, sich zu konstituieren begann, musste sie das auch inhaltlich tun. Ihre Grundwerte finden, ihre Basis, ihre innere Herleitung. In den folgenden Jahren bildete sie, bzw. die Gemeinschaft der Freiwilligen ("Community"), einen Satz von Regeln und Kriterien heraus. Man kann über diese sagen, was man will, aber die Texte dieses Regelsatzes haben es als vielleicht einzige Texte der Wikipedia verdient, dass man die großen Worte auf sie anwendet, die die WP oft umgeben (z.B. „Schwarmintelligenz“ oder „Kollaboratives Arbeiten“).

In jahrelanger Arbeit wurde bis ins Detail an diesem Regelsatz gefeilt. Die Kürzel dazu gehen jedem Wikipedianer leicht von der Zunge, die meisten davon sind intern stehende Redewendungen geworden mit der unheimlichen Macht, so manche Diskussion handstreichartig zu beenden, noch bevor sie ausgebrochen ist. Einige dieser Regeln wurde in Jahren hart ausgefochten, manche sind seit je unumstößlich oder waren von Anfang an in der Substanz unbestritten. Was nicht heisst, dass sie unbefragt blieben, nicht heisst, dass man nicht provozierend ihr Ende ausrief, sie kitzelte, trat und anschrie.

Wikipedia ist eine Enzyklopädie. Die damit verbundene Pflicht zu bequellter Arbeit, zur Neutralität, das Verbot der Theoriefindung und die immer wieder lästige Relevanz – sie haben zur Erschaffung dieses Textkorpus geführt, der innerhalb weniger Jahre für den wachsenden Teil der Welt, der im Internet präsent ist, unverzichtbar wurde. Wikipedia und seine Schwestern haben im Alltag der Menschen wie in Wissenschaften, Rechtsprechung und Politik Spuren hinterlassen. Abertausende von Menschen haben in der letzten Dekade ihre Kraft in diese Projekte gesteckt, ihre Liebe und ihre Passion, für einige ist Wikipedia zentral für das eigene Selbstverständnis geworden. Und auch wenn ihr Antrieb Eitelkeit oder Schreiblust war – diese Menschen wählten dieses Projekt um sich darin zu finden, nicht eine der zahllosen anderen Plattformen im Netz.

Das hat sicher auch mit dem "Heiligen Ernst" der WP zu tun, denn man hat sich diesen ominösen Regelsatz vor dem Hintergrund gern- und vielzitierter Vorbilder - Diderot, d'Alembert, Zedler, Brockhaus - gemeinschaftlich über Jahre hinweg gegeben. Call me Aufklärung. Und obwohl es nirgends explizit gesagt wird: diese Regeln dienen ja in all ihrer Unschärfe und Unvollkommenheit dem Zweck der größtmöglichen Annäherung an eine nicht minder unscharfe und unvollkommene Idee, nämlich ganz bescheuert der "Wahrheit". („Pathos!“-Zwischenrufe bitte beim Pförtner abgeben.)

Das Board of Trustees, ein Bund mehr oder weniger verdienter Menschen aus dem Wikimedia-Universum, die die Geschicke der Wikimedia-Welt zu leiten berufen wurden, hat vor nun schon einiger Zeit einen Beschluss gefällt, der diesem Satz an Werten noch einige weitere hinzufügt. Welche aus einer komplett anderen Welt: Gefühl, Geschmack und Meinung. Herrliche Kriterien für persönliches Wohlbefinden. Sicher aber nicht für Wahrheit. Sicher nicht für Wissen.

Denn Wissen, das ist ja auch Zumutung, das ist auch Angst, Schrecken, Enttäuschung, Unbehaustheit, Verlorensein und Zorn. Wer glaubt, die versprochene Freiheit von der Unmündigkeit führe ihn -HappyHappyHello!- direkt in ein Schlumpfhausen des Wissens, der missversteht das Wesen dieser Freiheit. Wissen kann und muss leider auch ein Spießrutenlauf schmerzhafter Einsichten sein. Wer dem entgegenzuarbeiten sucht, arbeitet gegen den Sinn des Wissens. Mit seiner Entscheidung hat das Board genau das getan und einen unfassbaren Fehler begangen.

Auf individuell einstellbarer Ebene darf der Leser sich nun per Beschluss des Boards aussuchen, was er sehen will und was nicht. Wissen light, im Namen von Sicherheit und Wohlbefinden. Auweia.

Dass es sich „nur“ um Bilder handelt, ist übrigens vollkommen egal. Denn alle Parameter die das Board für seine Entscheidung nannte, lassen sich bruchlos auch auf Text anwenden. Es wäre doch inkonsequent, es bei Bildern zu belassen, oder nicht?

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